Neujahrskonzert

01.02.2019

Ein Bericht von Claudia Damaschke:

Früh ist sie zeitig wach, aufgeräumt, mein gewissenhaftes Kind. Sie ist das, was man landläufig schüchtern nennt. Eine Veranstaltung wie unser Neujahrskonzert kann für sie nie reines Vergnügen sein, einfach weil Menschen dabei sind. Viele fremde Menschen.

Aber auch für viele andere, muss man ehrlicherweise sagen, ist das Neujahrskonzert kein reines Vergnügen. Die meisten, die heute gekommen sind, haben monatelang ihre Auftritte geübt, geplant, diesen Tag organisiert. Auch das muss das Kind sehen, soll es etwas von der Welt lernen.

Noch ganz locker kommen wir in Rumburk an, ein heller Tag, keine Selbstverständlichkeit im Januar. Beim Aussteigen wird das Kind angesprochen. Auf Tschechisch! Das wird sie später mehrfach erzählen. Stolz. Aber auch etwas ängstlich.

Dann betreten wir, eine Dreiviertelstunde vor Konzertbeginn den noch leeren Saal. Eva Cachova ist zum Glück schon da. Sie hat alles Wichtige organisiert, geschrieben und wird moderieren. Nur jetzt ist für ein kleines Gespräch Zeit. Darüber vergesse ich, gute Plätze zu besetzen. Schwerer Fehler.

Während ich noch die geniale Lösung bewundere, wie die einzelnen Schulen aus Tischen kleine Abteile bekommen haben und mich frage, wie der Kuchen für die Musiker wohl schmeckt, hat das Kind genug Eindrücke gesammelt. Es steht an der Wand und nichts geht mehr. Dummerweise hier, wo sich die großen und kleinen Künstler anziehen, proben, mehrsprachig schwatzen, lachen und Instrumente stimmen. Das Kind an seiner Wand sieht alles. Wirklich alles. Während sein Bruder sichmitseinen Legofiguren diskret aus der realen Welt zurückzieht, kann sich das Kind nicht vor der Wirklichkeit verschließen – es schaut, gelegentlich quietschend und tretend.

Ich schaue sie an, hilflos und begreife mit einem Mal, wie sich das Kind jetzt fühlen muss. Überrollt von der Welt und gleichzeitig schutzlos abgetrennt von allem. Denn das Kind sieht jetzt gar nicht lieb aus. Es wehrt sich gegen die Eindrücke, gegen alles, was von außen kommt. Auch liebe Worte, ein zartes Streicheln, die sanfte Erinnerung, dass alles ok ist. So quietschend und keifend wirkt mein Kind wie eine verzogene Göre, dabei leidet sie. Schüchternheit sieht von außen oft aus wie schlechtes Benehmen.

Doch jeder von uns kennt diesen Zustand. Wir laufen nachts durch den Park und hinter uns knackt etwas. Wir erstarren, spitzen die Ohren, mit dem ganzen Körper auf Wahrnehmung eingestellt. Smalltalk? Halt die Klappe, hier könnte es gefährlich sein! Schüchternheit besteht darin, dass dieser körperliche und geistige Alarmzustand in ganz normalen sozialen Situationen hervorgerufen wird. Nicht Wildschweine oder Räuber, sondern wuselnde Kinder und Erwachsene versetzen mein Kind in äußerste Angst. Doch sie ist ja nicht dumm, sie weiß – sie sieht ja alles – dass ihr Verhalten unangemessen ist. Alle anderen Kinder bewegen sich oder haben zumindest die Jacke schon ausgezogen und kleben nicht an der Wand. Und ich merke, wie einsam sie jetzt sein muss. Die Angst und das Wissen um das Irrationale dieser Angst, der Ärger darüber, dass sie nicht machen kann, was von ihr erwartet wird – und ihr ist so wichtig, alles richtig zu machen. Seine Mutter wartet. Etwas anderes geht nicht und lächelt ihr gelegentlich ermutigend zu: Es ist in Ordnung, was hier passiert. Du bist in Ordnung. Wir haben Zeit.

Zwei Minuten vor zehn haben wir allerdings keine Zeit mehr. Nun läuft ein Ruck durch das Kind. Jacke und Mütze werden abgelegt, der Bruder herzugerufen. Wir können in den Saal gehen. Auf der vorletzten Reihe finden wir noch einen Platz. Der Saal ist voll, hat aber genug Platz für seine Gäste. Das Kind sitzt – nun wie jedes andere Kind – und lauscht der Eröffnung zu. Matias und Katerina moderieren, wie es Tradition ist, zweisprachig. Ihre Anmoderationen werden uns kurz aber gehaltvoll durchs Programm führen.

Die Kindergartenkinder aus Studanka tanzen als Teufelchen. Wir sehen von hinten leider nur die Hörnchen. Das interessiert aber nur mich. Das Kind schaut zufrieden nach vorn, der kleine Bruder hält sich schon wieder im Ninjago-Nirgendwo auf. Die Hradeker Kinder in blauen und gelben Shirts singen gefühlvolle Volkslieder und Cohens „Halleluja“. Das Kind wird später dieses Lied zu seinem Favoriten wählen. Inzwischen betritt eine weitläufige tschechische Bekannte den Saal und mein Kind erkennt sie sofort – das istdas Bewundernswürdige an ihr.

Die Mädchen der U Nemocnice treten mit Gitarren an. Hier ist alles echt, die Stimmen, die Gitarrenklänge, die Percussion. Alsgroße Liebhaberin handgemachter Musik freut mich das besonders. Und man merkt, dass auch das Publikum so etwas mag: Applaus beim „Cupsong“.

Die kleineren Schüler der U Nemocnice haben wieder einen Chor: Listek, Blättchen. Fröhlich und offen klingen die Weihnachtslieder der jungen Stimmen. Bleibt dabei, möchte man sagen, dann werdet ihr wieder zu einem der legendären Chöre der Rumburker Schule.

Auch die Grundschule Pastelka aus Rumburk überzeugt mit klaren zarten Stimmen, sogar mit Gesangssolisten. Leider verwandelt sich der Durchgang hinter mir langsam in eine Wandelhalle und nun finde ich doch schade, die Liedtitel der tschechischen Lieder nicht zu kennen. Soviel zu dieser Seite des Miteinander leben. Es fehlt mir noch viel Wissen.

Das Kind lauscht, aufmerksam an mich gekuschelt. Es wird später sagen, jede Sekunde des Konzerts sei doof gewesen. Aber ich spüre, jetzt gerade stimmt das nicht.

Nach der Pause aber müssen Bilder gemalt werden. Sogar dem kleinen Bruder sind die Spielideen ausgegangen. So folge nur noch ich mit leider weniger Zuhörern als noch vor der Pause das weitere Konzert.

Ostritz hat auch etwas Cooles im Programm: Lieder aus einem Weihnachtsmusical, mit eleganter polnischer Übersetzung. Die Suche nach dem Sinn, der hinter Weihnachten steckt. Ich freue mich über diese Ernsthaftigkeit und über die musikalische Qualität der bisherigen Beiträge. Ein frohes „Gloria in Excelsis Deo“ entlässt uns aus der Weihnachtszeit.

Die Zumbagruppe aus Cvikov mischt im Anschluss den Saal auf. Laut und fröhlich und bei aller Bewegtheit koordiniert und entspannt. Alle Achtung! Das Kind, selbst erbarmungslose Kritikerin, entdeckt natürlich jede nichtchoreographierte Bewegung und während die anderen Kinder sich unwillkürlich mitbewegen, hält es peinlich berührt sogar seine Hände still, nachdem es bemerkt hat, dass die Merkwürdiges tun.

Aus Oberland kommt eine Tanzgruppe mit Chorbegleitung. Der Chor singt ein wenig zu zart für das Klavier, aber die von Schülern selbst einstudierte ruhig fließende Choreographie bannt das Publikum ebenso wie das Violinienduo. Auch hier steckt Potential. Kommt zum Auch das Kind läuft vor!!! Und dort vorn versucht eine tschechische allerliebste Vierjährige mein Kind zum Mitklatschen zu animieren. Komplett erfolglos natürlich, aber das kann die Kleine ja noch nicht wissen. Hier scheitert die Völkerverständigung erst mal. Aber bleib dabei, kleines Mädchen! Schüchterne, wie mein Kind brauchen Menschen wie dich, die sich nicht von ängstlich-abweisenden Blicken wegschicken lassen.

Das Neujahrskonzert 2019 endet mit amerikanischer Folklore, O Susanna und Jingle Bells, dargeboten von der Grundschule Bogatynia. Manche Kollegen aus den anderen Schulen sehe ich nur dises eine Mal im Jahr, mich freuend über jedes Gesicht, das ich wiedererkenne. Bis nächstes Jahr also!

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